Laudatio und Friedenspreisrede

 „Die Erzählerin als moralisches Zeugnis“

Laudatio von Seyla Benhabib. Der Text folgt dem gesprochenen Wort.


I.

Wer Carolin Emckes Buch – Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit (2013) – in die Hand nimmt, dem blickt vom Einband Paul Klees berühmter Angelus Novus entgegen. In der Neunten These seiner Abhandlung Über den Begriff der Geschichte bietet Walter Benjamin, der die Zeichnung 1921 erworben hatte, eine Interpretation an:

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. … Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Es ist aber nicht Benjamins geschichtsphilosophischer Pessimismus, der Klees Bild als Eintrittspunkt zu Carolin Emckes Werk empfiehlt. In ihren Texten finden sich weder historischer Pessimismus noch messianischer Optimismus. Was einem stattdessen von jeder Seite entgegenstrahlt, ist das Staunen im Gesicht des Engels der Geschichte, der mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund seine Flügel ausspannt. Emcke wundert sich, dass die grausamen Dinge, die in Bürgerkriegen geschehen, überhaupt menschenmöglich sind; dass Folter, Vergewaltigung, Hiebe, Verstümmelung und Demütigung tatsächlich passieren. Auch wenn man, wie Benjamin sagt, das Zerschlagene nicht mehr zusammenfügen kann, so kann man es doch erlösen, indem man es erzählt. Carolin Emcke hat die Gabe, die Dinge so benennen und erzählen zu können, dass das Schweigen, in das sich Gewalt, Grausamkeit und Folter hüllen, durchbrochen wird. Es ist diese Gabe, die sie heute zu einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit macht.

Wie die Begründung des Friedenspreises es ausdrückt, beschreibt Carolin Emcke »auf sehr persönliche und ungeschützte Weise, wie Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit Menschen verändern können. Mit analytischer Empathie appelliert sie an das Vermögen aller Beteiligten, zu Verständigung und Austausch zurückzufinden«. Diese »analytische Empathie« lässt sich vor allem in Emckes meisterhafter Erzählkunst bestaunen. Walter Benjamins Aufsatz Der Erzähler bietet auch hier Aufschluss. Benjamin beginnt mit der Beobachtung, dass »Erfahrung im Kurse gefallen« sei. »Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung.« (104) Was bedeutet es, dass Erfahrung im Kurse gefallen ist? Zunächst einmal heißt es, dass die Kommunikation von Erfahrungen durch den Austausch von Informationen und Phrasen ersetzt wurde.

Emcke verweigert sich der Verarmung der Erfahrung durch das Schweigen und den bloßen Austausch von Information. Sie widersetzt sich der Sprachlosigkeit, die sowohl jene befällt, die gefoltert, verstümmelt, geschlagen und vergewaltigt wurden, als auch jene, die ihre eigene Ohnmacht unter Vortäuschung von Macht zu verstecken suchen. Als Erzählerin hat sie eine einmalige Synthese aus Reportage, philosophischer Reflektion, und literarischer Komposition geschaffen, durch die sie »moralisches Zeugnis« ablegen kann über menschliches Leid in gewaltsamen Konflikten, aber auch über andere Formen von Leid und Schweigen, die all jene verspüren, die anders sind, sei es sexuell, psychologisch, religiös oder ethnisch. Dadurch erlöst sie den Schmerz der Nicht-Sagbarkeit und bringt die Mauern des Schweigens und Leids zu Fall, hinter denen sich das Trauma des Unsäglichen auftürmt.

Man erinnere sich an den Anfang von Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF: wie langsam, wie vorsichtig, wie geduldig das Buch beginnt. Emckes Sanftmut und Behutsamkeit beschränkt sich nicht nur auf das Opfer – Alfred Herrhausen, ihr Patenonkel –, sondern bezieht auch den Taxifahrer mit ein, der nie bezahlt wurde, weil eine fassungslos benommene Carolin Emcke vom Tatort wegbegleitet wurde.

»Ich denke immer noch an den Taxifahrer. Es war bereits Mittag, als die Maschine aus London in Frankfurt landete.// Ich stieg in das erstbeste Taxi auf den Standstreifen im unteren Stockwerk des Flughafens und nannte dem Fahrer erklärungslos die Adresse in Bad Homburg. Er verzog keine Miene.// Dabei musste er wissen, wessen Haus das war. … Wortlos nahm er mir meine alte, zerknautschte Ledertasche ab und verstaute sie im Kofferraum.« (9)

Einige Seiten später erfahren wir dann: »An meinen Taxifahrer habe ich gar nicht mehr gedacht. Er musste die ganze Zeit dort vor der Kreuzung gestanden haben, auf dem Bürgersteig. // Wie lange möchte das her sein? Wie lange hatte ich auf diesen – in die Luft gesprengten – Wagen gestarrt? Wie lange war ich abgetaucht?« (13)

In einem Buch, das sich mit einem der dunkelsten und immer noch nicht vollständig geklärten Kapitel Nachkriegsdeutschlands auseinandersetzt – mit all seinen Verbindungen zwischen der RAF, der Stasi, dem westdeutschen Verfassungsschutz und den Spionen und Provokateuren auf allen Seiten – mag meine Betonung derartiger narrativer Details unangemessen erscheinen. Doch es ist genau diese Kunst, sich einem Trauma indirekt zu nähern, ihre Gabe zu Erinnerungsarbeit, die nie einem geraden Handlungsstrang entspricht, sondern sich vermeintlich unerheblichen Details widmet und unerwarteten Pfaden folgt, die Emcke zu einer wirklich großen Erzählerin macht.

In der Einleitung ihrer Essaysammlung Weil es sagbar ist erwähnt Emcke ihr Verzagen als junge Kriegsberichterstatterin angesichts der Unfähigkeit, »das Erlebte« vermitteln zu können. »Wie viel Zeit ist vergangen seit dem Erlebten, das es zu beschreiben gilt? Geht es um einen einzelnen Akt oder eine längere Phase? Ist es die erstmalige Suche nach Worten für das Geschehen? Ist es ein kreisendes, zögerndes, ein zielloses Sprechen? … Oder gibt es Fragen, wohlmeinende oder argwöhnische, die dem Zeugen narrative Pfade bahnen?« (25) Mit dem gewaltsamen Tod ihres Patenonkels konfrontiert, bietet die abgekapselte Erinnerung an den Taxifahrer und an die im Kofferraum vergessene Ledertasche Emcke einen narrativen Pfad, um ihr Empfinden einer zeitlichen Zäsur zu vermitteln, die sie derartig in den Bann schlug, dass sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wie lange sie den zerstörten Mercedes ihres Patenonkels wortlos angestarrt hat.

In einer ihrer schönsten Geschichten, der von Adem, einem bosnischen Flüchtling, schlägt sie einen ähnlichen narrativen Bogen, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf Adems Schuhe lenkt. Sein Flüchtlingsantrag wird abgewiesen und er wird von Deutschland nach Belgrad abgeschoben, wo seine Staatsbürgerschaft aufgehoben, er zusammengeschlagen und dann wieder mit einem Flugzeug zurück nach Deutschland gebracht wird. Als Adem anfängt, seine Geschichte zu erzählen, sagt er: » >Ich hatte ganz neue Schuhe. Und sie waren teuer<, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck.« Emcke fragt: »Wann? Wozu? Was hatte das mit seiner Flucht aus Jugoslawien zu tun? Was mit seiner Zeit als schutzloser Asylbewerber in der Bundesrepublik, verfrachtet von einer Baracke, einem Flüchtlingsheim zum nächsten?« (38-39)

Sowohl Traumaforschung als auch Psychoanalyse verweisen als Folge eines Traumas auf die Schwierigkeit, das Geschehene einer Extremsituation im Gedächtnis zu entwirren. Gewalt und Zerstörung entkoppeln uns von unseren Erfahrungen. Trauma wirft unser Erinnerungsvermögen durcheinander und chiffriert es. Man kann sich einem Trauma nur langsam nähern, mit Sorgfalt, mit Teilnahme, mit »analytischer Empathie«, wenn das Opfer beginnt, sich der Wurzel des Schmerzes zu nähern und sich an das erfahrene Leid erinnert. Trauma wird sagbar, genau weil jemand das Geschehene in eine Geschichte einzuordnen weiß und es so erzählbar macht. Das ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sondern auch eine Form moralischer Interaktion mit dem Anderen – und eine hohe Kunstform. Hannah Arendts Worte über die dänische Schriftstellerin Karen Blixen lassen sich hier gut auf Emckes Mission anwenden: » >Alle Sorgen sind zu ertragen, wenn man sie in eine Geschichte packen oder eine Geschichte über sie erzählen kann.< Die Geschichte enthüllt die Bedeutung dessen, was sonst eine unerträgliche Folge bloßer Ereignisse bliebe.« (Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, 124)

II.

Carolin Emckes frühe Kriegsreportagen und Reiseberichte aus dem Irak, Afghanistan, Bosnien, Haiti und Gaza, die in ihrem Buch Von den Kriegen. Briefe an Freunde gesammelt sind, erschienen in einem kritischen historischen Moment in der Nachkriegsgeschichte liberaler Demokratien. Aus den juristischen und moralischen Verwirrungen um den Begriff der »humanitären Intervention« entstand ein eigenes Genre, zu dem auch Michael Ignatieff, Philipp Gourevitch, David Rieff und andere beitrugen. Die Unterscheidung zwischen Reportage und moralisch-politischem Kommentar sprengend, trugen sie dazu bei, die Dilemmata und Heucheleien der humanitären Intervention offenzulegen: warum im Kosovo 1998-99, aber nicht in Ruanda 1994? Warum in Afghanistan 2001, im Irak 2003, in Libyen aber damals nicht, dafür dann aber ein Jahrzehnt später in 2011?Und warum heute nicht in Syrien? Viele sahen in diesen Kriegen die neo-imperialen Ambitionen des letzten Welthegemons, der Vereinigten Staaten. Aber das verkennt, dass diese Kriege auch den Menschenrechten und dem humanitären Recht Schaden zugefügt haben; einem Rechtssystem, das Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg schufen und durch welches sie versprachen, dass Gräueltaten wie die der Jahre 1939-1945 sich nicht wiederholen würden. Der Missbrauch des Begriffs der humanitären Intervention durch die diplomatischen Tänze Tony Blairs, wie auch die Missachtung internationalen Rechts und internationaler Übereinkommen gegen Folter durch die Regierung George W. Bushs haben Menschenrechten und humanitärem Recht schwer zugesetzt. Fast fünfundzwanzig Jahre nach den Balkankriegen und dem Massaker in Ruanda leiden wir heute noch an einer juristischen und moralischen Verwirrung. Ein moralischer Nebel verschleiert unsere juristischen und ethischen Verpflichtungen gegenüber »leidenden Fremden«.

In ganz Europa rufen rechtsextreme und fremdenfeindliche Parteien zum Angriff auf internationales Recht und Menschenrechtskonventionen. Reaktionärer Nativismus und Nationalismus drohen die zerbrechlichen Institutionen internationaler Kooperation jenseits des Nationalstaates – wie die Europäische Union – zu zerstören. Das amerikanische Bekenntnis zum Internationalismus wird gleichzeitig durch die Rückkehr einer autoritären, patriarchalen Ideologie der »weißen Europäischen Abstammung« herausgefordert, die sich offen gegen die braunen und schwarzen Menschen dieser Welt stemmt – seien sie Syrer oder Mexikaner. Der Mythos des Nationalstaats als Alleinvertreter der Weltgeschichte wird heute von London bis Budapest und von Moskau bis zum Trump Tower in New York wieder heraufbeschworen.

Dabei wird außer Acht gelassen, dass die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ihr Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 zwei der wichtigsten rechtlichen Abkommen der Nachkriegszeit sind. Sie entsprangen aus der Anerkennung einer engen Verbindung zwischen Genozid und Staatenlosigkeit. Hannah Arendts Analyse des paradoxen »Rechts, Rechte zu haben«, zeigte eindringlich, wie Staatenlosigkeit, also der Verlust des persönlichen Schutzes durch ein anerkanntes politisches Gemeinwesen, das Individuum schutzlos der Verfolgung auslieferte. Menschenrechte, von denen wir annahmen, dass sie genau in diesen Momenten Menschen als Menschen beschützen würden, waren unter diesen Umständen wertlos. Als Arendt Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 1951 schrieb, hatte sie wenig Vertrauen, dass internationales Recht und internationale Institutionen adäquate Lösungen angesichts dieser Situation bieten könnten, obwohl durch sie  das »Recht, Rechte zu haben« geschützt werden sollte, auch vor den vermeintlich souveränen Launen der Nationalstaaten. Dabei deklamierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schon  1948 in Artikel 13 das Recht auszuwandern, das heißt, ein Land zu verlassen und zurückkehren zu können. Artikel 14 verankert das Recht auf Asyl unter bestimmen Umständen, die durch die Genfer Konventionen weiter klargestellt wurden. Artikel 15 der Menschenrechtserklärung proklamiert das Recht auf Staatsangehörigkeit.

Obwohl das internationale Menschenrechtsregime wie auch das humanitäre Völkerrecht heute viel weiter entwickelt sind als zu Arendts Zeiten, befindet sich der Flüchtlingsschutz sowohl in der Theorie als auch in der Praxis in einer tiefen Krise. Die Genfer Konvention ist in erster Linie auf die Opfer des Naziregimes und auf politische Dissidenten zugeschnitten. Angesichts eines »allgemeinen Gewaltzustands«, wie wir ihn in Syrien beobachten und in der Vergangenheit in Zentralamerika und Südamerika beobachten mussten, werden Flüchtlinge nicht als Einzelpersonen verfolgt, sondern sind kollektive Opfer von Gewalttaten ihrer eigenen Regierung, Drogenbanden oder paramilitärischen Gruppierungen. In Anerkennung dieses kollektiven Flüchtlingszustands, der den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention sprengt, wurde 1984 die Cartagena Erklärung von sämtlichen zentralamerikanischen Ländern sowie von Mexiko verabschiedet, die ausdrücklich jene Menschen mit einbezieht, die aus ihrem Land flüchteten, »weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist«.

Die Europäische Union muss dieses vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen anerkannte Rechtsmittel in Betracht ziehen, um die Last zu mindern, die derzeit auf Erstaufnahmeländern, wie Griechenland, Italien und Spanien, aber vor allem auf den Flüchtlingen ruht, die dort festsitzen bis ihre Anträge aufgearbeitet sind. Während dieser Zeit befinden sich diese Menschen in einem Kafkaesken Zustand: sie stehen »vor dem Gesetz« und sind Gesetzen unterworfen ohne aber vor ihnen gleich zu sein.

Einige europäische Länder wie Ungarn, die Tschechische Republik, Österreich und Großbritannien haben sich inzwischen offen einem regressiven Souveränismus zugewandt. Sie bestehen darauf, in Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlinge nach eigenem Ermessen zu behandeln, während ironischerweise eine zunehmend autokratische und diktatorische Regierung in der Türkei 2,7 Millionen Flüchtlinge aufnimmt.

Es ist wenig bekannt, dass die Türkei zwar Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention ist, aber als Flüchtlinge gemäß dem Abkommen nur jene anerkennt, die aus Europa geflohen sind und zwar auf Grund »der Ereignisse, die vor dem 1. Januar 1951« stattgefunden haben. Flüchtlinge, die aus außereuropäischen Gebieten in die Türkei kommen, werden von der türkischen Regierung nichts als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention eingestuft. Stattdessen fallen sie unter eine gesonderte türkische Direktive, die sogenannte »Temporäre Schutzverwaltung«. Die Erklärung Präsident Erdogans, sämtlichen in Frage kommenden syrischen Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft in Aussicht zu stellen, verkündet kurz vor dem Scheitern des Militärputschs am 15. Juli dieses Jahres, entspricht sicherlich der moralischen und politischen Hoffnung vieler Flüchtlinge. Aber die giftige Vermengung moralischer und realpolitischer Erwägungen, die die Flüchtlingsdiskussion heute plagt, findet sich auch in dieser politischen Geste. Präsident Erdogan, dessen Dominanz an der Wahlurne zum ersten Mal im Juni 2015 und dann erneut diesen Juni angefochten wurde, mag auf die syrischen Flüchtlinge mit der Hoffnung blicken, dass sie als Wählerblock mit nahezu einer Million Wahlberechtigten seinen Machtanspruch für die vorhersehbare Zeit sichern könnten.

III.

Carolin Emcke hat nicht nur über fremdes Leid geschrieben, sondern in ihren wöchentlichen Kolumnen als Journalistin auch regelmäßig auf die Notlage von Flüchtlingen verwiesen und uns so daran erinnert, dass ferne Fremde heutzutage unsere direkten Nachbarn sind, die sich unerwartet in unserem Land finden und denen wir besondere moralische Verpflichtungen schulden. Sie schreibt:

»Aber das ist es, was ich fordere: dass wir ein präziseres Vokabular entwickeln für unsere Schmerzen an und in der Demokratie, dass wir immer genauere, immer feinere, immer zartere Worte und Beschreibungen finden für das, was uns fehlt, dass wir die Begriffe, die uns verletzen, die Praktiken, die uns ausschließen, die Gesetze, die uns diskriminieren, übersetzen in Erfahrungen …, dass sie auch diejenigen verstehen, die sie nicht kennen, dass wir auf diese Weise erkennen, was das Gemeinsame sein kann und muss und was das Individuelle.« (177-178)

Schmerzen an und in der Demokratie! Das ist die weltweite Herausforderung heutzutage.

Liebe Carolin, lass mich abschließend sagen, dass wir uns vor über zwanzig Jahren in Frankfurt in den Seminaren von Professor Jürgen Habermas kennengelernt haben. Auch deswegen ist es eine ganz besondere Freude, Deine Person und Deine Errungenschaften in der Frankfurter Paulskirche zu feiern, in einer Stadt, mit der wir beide eng verbunden sind; in der ich mehr als zehn Jahre gelebt habe und in der meine Tochter 1986 geboren wurde. Ich feiere Dich heute nicht nur als öffentliche Intellektuelle, deren Worte und Schriften Dein Land ehren, sondern auch als eine liebe Freundin.

Zusammen mit Deiner Lebensgefährtin Silvia Fehrmann hast Du außerdem in Berlin an der Schaubühne seit inzwischen zwölf Jahren eine neue öffentliche Sphäre – den »Streitraum« – geschaffen, in dem debattiert und reflektiert werden kann.

Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu diesem wohlverdienten Preis!

„Anfangen“

Carolin Emckes Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises 2016 – Der Text folgt dem gesprochenen Wort.


I.

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus…

All die ersten Jahre, seit der Auszeichnung an George F. Kennan 1982, schaute ich die Verleihung des Friedenspreises von unten nach oben: Meine Eltern hatten eigenwilligerweise nur zwei Fernseh-Sessel, Kinder mussten sich unterhalb arrangieren und so lag ich auf dem Teppich und hörte gebannt die Reden der Preisträger. Ich sage »Preisträger«, denn die ersten dreizehn Jahre, die ich von unten nach oben blickte, waren es ausschließlich Männer. Auch als ich längst eine eigene Wohnung hatte, behielt ich dieses Ritual bei: Ich betrachtete den Friedenspreis vom Fußboden aus. Irgendwie schien das auch angemessen zu sein. Seit der Preisverleihung an David Grossman saß ich dort, wo Sie jetzt sitzen. Letztes Jahr noch bin ich mit einem Freund am Vorabend der Verleihung nachts in den Festsaal im Frankfurter Hof geschlichen, um die Tischordnung für das Festessen zu manipulieren… (wobei wir peinlicherweise erwischt wurden) und jetzt das hier

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich beim Stiftungsrat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für diese Auszeichnung. Sie erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und einem glücklichen Staunen.

Niemand wächst allein. Einige, die vor mir hier an dieser Stelle standen, waren für mein Denken existentiell. Die Werke vieler Friedenspreisträger*innen, aber auch die Begegnung mit manchen haben mich zu der gemacht, als die ich heute vor Ihnen stehe: Martin Buber und Nelly Sachs, David Grossman und Jorge Semprún, und in besonderer Weise Jürgen Habermas und Susan Sontag. Nach ihnen in einer Reihe zu stehen, lässt mich diesen Preis weniger als Auszeichnung denn als Aufgabe begreifen.

Niemand schreibt allein. Zwei Menschen waren für mein Schreiben unverzichtbar und ihnen möchte ich ausdrücklich danken: der Photograph und Freund Sebastian Bolesch, der mich über 14 Jahre auf allen Reisen ins Ausland begleitet hat und ohne den kein Text so entstanden wäre. Und mein Verleger und Lektor Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, der mich seit dem ersten Manuskript über alle Zweifel hinwegträgt und ohne den kein Buch so erschienen wäre. Vielen Dank.

II.

Nicht alle, aber viele, die vor mir hier standen, haben nicht allein als Individuen, sondern sie haben auch als Angehörige gesprochen. Sie haben sich selbst verortet in einem Glauben oder einer Erfahrung, in der Geschichte eines Landes oder einer Lebensform – und darauf reflektiert, was das heißt, als chinesischer Dissident, als nigerianischer Autor, als Muslim, als Jüdin hier in der Paulskirche zu sprechen, in diesem Land, mit dieser Geschichte.

Für diejenigen, die hier oben, mit dieser Perspektive sprechen durften, bedeutete es oft auch, aus und von einer besonderen Perspektive zu erzählen. Sie wurden ausgezeichnet, weil sie sich für ein universales Wir einsetzten – und doch haben sie oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen.

Das ist durchaus bemerkenswert, denn es ist keineswegs gewiss, was das heißt: angehörig oder zugehörig zu sein.

Das moderne hebräische Wort für »angehören«, »shayach«, stammt ursprünglich aus dem Aramäischen – ist gleichsam zugewandert, aus einer Sprache in eine andere, um dann ironischerweise die Bezeichnung für „Angehörigkeit“ zu bilden. Das Wort shayach verweist auf nichts anderes. Anders als die meisten anderen Begriffe im Hebräischen birgt es in sich keine Anteile eines anderen. Es gehört gleichsam sich selbst. Etwas als shayach zu bezeichnen, bedeutet: es ist relevant, angemessen, wichtig. Das wäre eine schöne Spur: sich zugehörig zu zählen zu einem Glauben oder einer Gemeinschaft, hieße: ich bin für diese Gemeinschaft relevant, in ihr zähle ich als wichtiges Element.

Aber Angehörigkeit lässt sich auch in die andere Richtung denken: nicht nur ich bin für diese Gemeinschaft wichtig, sondern auch der Glaube für mich. Jüdisch zu sein oder katholisch oder muslimisch, das macht etwas aus. Es strukturiert mein Denken, meine Gewohnheiten, meinen Tag. Almosen zu geben, das gehört zu den einen, wie das Beten bei Tisch oder das Anzünden der Kerzen zu den anderen.

Im Deutschen kennt der Begriff »gehören« mehrere Verwendungen: i) jemandes Besitz zu sein, aber auch ii) Teil eines Ganzen zu sein, zu etwas zu zählen, sowie iii) »gehören« als an einer bestimmten Stelle passend zu sein und iv) für etwas erforderlich zu sein.

Bin ich, wenn ich fromm bin, im Besitz des Glaubens? Ist Religiositätetwas, das mir gehört? Oder ist Glaube etwas, das sich im und durch das Hadern bestätigt? Was heißt also an-gehören in Bezug auf den Glauben? Gehört mir mein Glaube oder gehöre ich dem, an den ich glaube?

Damit ist noch nicht einmal berührt, ob diese Angehörigkeit etwas ist, zu dem es sich bewusst entscheiden lässt. Ab wann jemand zu einer Kirche oder Gemeinschaft gehört, das lässt sich festmachen an den jeweiligen Riten der Aufnahme. Aber ab wann der Glaube zu einer Person gehört, das ist weniger eindeutig.

Hatten mich die Passionen und Kantaten von Bach nicht schon durchdrungen und von innen heraus geformt, bevor ich von einem Glaubensbekenntnis auch nur wusste? Gehörte das nicht zu mir, und das heißt: bildete das nicht schon eine Voraussetzung für die, die ich werden sollte, bevor ich mich überhaupt zu einer Gemeinschaft hätte zugehörig erklären können?

Nun kennt das Wort »Angehörigkeit« keine Schattierungen. Es suggeriert eine einheitliche Empfindung. Als ob es uns immer gleich relevant sei, jüdisch oder protestantisch oder muslimisch zu sein. Als ob es sich an jedem Ort gleich anfühlte, kurdisch zu sein oder polnisch oder palästinensisch. Als ob es nicht in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich prägnant sein könnte. Mein Freund, der Regisseur Nurkan Erpulat, hat einmal auf die Frage, was es für ihn bedeute, muslimisch zu sein, geantwortet: »Das kommt auf den Kontext an.«

Manchmal ist die argentinische Herkunft besonders deutlich im glücklichen Blick auf die leuchtend lilafarbenen Blüten der Jacaranda. Aber manchmal ist sie besonders deutlich fern von dort, in Berlin, wenn ein Hubschrauber über der Stadt nicht von einem Militär-Putsch kündet, sondern nur von einem Stau – und die eingeübte Angst eine Weile braucht, bis sie sich verzieht.

Für manche wird das eigene Judentum besonders spürbar, wenn sie die Süße von Äpfeln mit Honig an Rosh ha’shana schmecken. Für andere dagegen, wenn sie in der Paulskirche sitzen und einer Rede zuhören müssen, in der das furchtbare Leid der eigenen Angehörigen von einem Menschheitsverbrechen, an das bis heute zu erinnern ist, zu einer bloßen »Moralkeule« verstümmelt wird. Ich kann hier nicht stehen, ohne an diesen nicht nur für Ignaz Bubis furchtbar schmerzlichen Moment in der Geschichte des Preises zu erinnern.

Ist Zugehörigkeit also etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? Weil die jüdische Perspektive als eine, die zu dieser Gesellschaft gehört, einfach ausgeblendet wird. Ist Zugehörigkeit also mit Glück oder mit Trauer verbunden? Ist zugehörig, wer als zugehörig erkannt wird und ist anders zugehörig, wem diese Anerkennung verweigert wird?

Wem gehört also dieses An-gehören – einem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: wieviele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wieviele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze?

Ich bin homosexuell und wenn ich hier heute spreche, dann kann ich das nur, indem ich auch aus der Perspektive jener Erfahrung heraus spreche: also nicht nur, aber eben auch als jemand, für die es relevant ist, lesbisch, schwul, bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein. Das ist nichts, das man sich aussucht, aber es ist, hätte ich die Wahl, das, was ich mir wieder aussuchte zu sein. Nicht, weil es besser wäre, sondern schlicht, weil es mich glücklich gemacht hat.

Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich – ehrlich gesagt – nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang. Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität.

Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art, wie wir lieben, für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren. Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre. Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeuteihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen.

So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.

Es ist eine merkwürdige Erfahrung:

Wir dürfen Bücher schreiben, die in Schulen unterrichtet werden, aber unsere Liebe soll nach der Vorstellung mancher Eltern in Schulbüchern maximal »geduldet« und auf gar keinen Fall »respektiert« werden?

Wir dürfen Reden halten in der Paulskirche, aber heiraten oder Kinder adoptieren dürfen wir nicht?

Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die uns gehören, absprechen wollen?

Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist dochder Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.

Verschiedenheit ist kein hinreichender Grund für Ausgrenzung.

Ähnlichkeit keine notwendigeVoraussetzung für Grundrechte.

Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden.

Um es für Paulskirchen-Verhältnisse mal etwas salopp zu formulieren: ich bin Borussia Dortmund-Fan. Ich habe, nun ja, etwas weniger Verständnis dafür, wie man Schalke-Fan sein kann. Und doch käme ich nie auf die Idee, Schalke Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit zu nehmen.

»Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit«, hat Tzvetan Todorow einmal geschrieben, »die Gleichheit zur Identität.« Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen.

Deswegen haben die, die vor mir hier standen und wie ich von dieser merkwürdigen Erfahrung der Zugehörigkeit zur Nichtzugehörigkeit gesprochen haben, doch beides betont: die individuelle Vielfalt und die normative Gleichheit.

Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.

III.

Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom »homogenen Volk«, von einer »wahren« Religion, einer »ursprünglichen« Tradition, einer »natürlichen« Familie und einer »authentischen« Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.

Alles Dynamische, alles Vielfältigean den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Alles individuell Einzigartige, alles, was uns als Menschen, aber auch als Angehörige ausmacht: unser Hadern, unsere Verletzbarkeiten, aber auch unsere Phantasien vom Glück, wird geleugnet. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft.

Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den hijab oder jüdischen Männern die Kippavom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen.

Sie beliefern den Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen, sie fertigen die rassistischen Product-Placements, all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird, all die Raster der Wahrnehmung, mithilfe derer Menschen gedemütigt und angegriffen werden.

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.

Das ist es eben, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen.

Sie wollen uns weißmachen, dass es das nicht gäbe, Verfassungspatriotismus und demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. Das hat auch etwas Groteskes: Jahrzehntelang hat diese Gesellschaft geleugnet, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, jahrzehntelang wurden Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder und Enkel als »Fremde« angesehen, nicht als Bürgerinnen und Bürger, jahrzehntelang wurden sie behandelt als gehörten sie nicht dazu, als dürften sie nichts anderes sein als Türken – und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besäßen einen zweiten Pass?

Die Familie meiner Mutter ist vor dem Krieg ausgewandert nach Argentinien. Alle in ihrer Familie besaßen zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Pässe, mal einen argentinischen, mal einen deutschen, manchmal beide. Ich habe sie zuhause bei mir aufgehoben: den Pass meines Großvaters, den mir mein Onkel geschenkt hat, und den meiner Mutter. Meine Nichte Emilia, die heute hier ist und die wie alle ihre Geschwister in den USA geboren ist, hat auch einen amerikanischen Pass. Mehrsprachig waren und sind alle. Aber glauben die Neonationalisten wirklich, irgendjemand in meiner Familie wäre weniger demokratisch gewesen, hätte deswegen weniger Respekt vor der Freiheit jedes Einzelnen und dem Schutz menschlicher Würde? Glauben die wirklich, der Pass sage etwas aus über die eigene Abneigung gegen Verrohung und die Bereitschaft, sich demokratisch für eine offene Gesellschaft zu engagieren – und zwar, egal wo?

Ich vermute eher, alle, die einmal vertrieben wurden, die Flucht oder auch nur Migration kennen, alle, die an verschiedenen Orten in der Welt sich zuhause fühlen, alle die mit Heimweh oder Fernweh geplagt sind, alle, die die verschiedenen Klangfarben der Ironie und des Humors lieben, die sich abwechseln und vermischen, wenn man die Sprache wechselt, alle, die Kinderlieder erinnern, die die nächste Generation nicht mehr kennt, alle, die die Brüche der Gewalt und des Kriegs miterlebt haben, alle, denen die Furcht vor Terror und Repression unter die Haut gezogen ist, wissen doch um den Wert stabiler rechtstaatlicher Institutionen und einer offenen Demokratie. Vielleicht sogar etwas mehr als diejenigen, die noch nie darum bangen mussten, sie zu verlieren.

Sie wollen uns einschüchtern, die Fanatiker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unsere Orientierung verlieren und unsere Sprache. Damit wir voller Verstörung ihre Begriffe übernehmen, ihre falschen Gegensätze, ihre konstruierten Anderen – oder auch nur ihr Niveau. Sie beschädigen den öffentlichen Diskurs mit ihrem Aberglauben, ihren Verschwörungstheorien und dieser eigentümlichen Kombination aus Selbstmitleid und Brutalität. Sie verbreiten Angst und Schrecken und reduzieren den sozialen Raum, in dem wir uns begegnen und artikulieren können.

Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule »Lobby« oder »Parallelgesellschaft«, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als »zornig« diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen Machismo und Sexismus engagieren, damit sie sie als »humorlos« abwertenkönnen.

In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen.

Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen.

Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an »die Politik« delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.

Was wir tun können?

»Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden«, schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, »und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.«

Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt.

Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, in dem wir uns einschalten in die Welt. Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht.

Wir können immer wieder anfangen, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Wir können die Verkrustungen wieder aufbrechen, die Strukturen, die uns beengen oder unterdrücken, auflösen, wir können austreten und miteinander suchen nach neuen, anderen Formen.

Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.

Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. Demokratische Geschichte wird von allen gemacht. Eine demokratische Geschichte erzählen alle. Nicht nur die professionellen Erzählerinnen und Erzähler. Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Dragqueens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, Rentnerinnen und Studenten, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. Dafür stehen Eltern und Großeltern ein, daran arbeiten Erzieher und Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen, dabei zählen Polizistinnen und Sozialarbeiter sowie Clubbesitzerinnenund Türsteher. Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbildern, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es dann auch sein.

Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.

Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.

Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.

Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.

Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Grundordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen?

Wir können immer wieder anfangen.

Was es dazu braucht?

Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen:

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.