Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Ausstellungseröffnung „Massenerschießungen – Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer“, Topographie des Terrors, Berlin

27.09.2016

Verehrter Herr Prof. Nachama,
verehrter Herr Herr Neumärker,
lieber Tim Renner,
sehr geehrte Damen und Herren!

Saftiges Grün; Birken und Sträucher im Hintergrund; ein sanfter Abhang,

und vorne weiß blühende Sommerblumen.

Ich beschreibe das Foto einer östlichen Landschaft, ein Foto fast wie gemalt. Sie werden es gleich in der Ausstellung finden, an der rechten hinteren Wand, und Sie werden es als Oase empfinden. Es ist ein aktuelles Foto und wurde vor den Toren von Mizozc aufgenommen, einer kleinen Stadt in der Westukraine.

Das Foto steht fast prototypisch für die weiten Landschaften einer Region, die mich als Außenminister in diesen Jahren so intensiv beschäftigt wie keine andere. Ukraine, Russland, Weißrussland, Moldawien, das Baltikum – in keine andere Weltregion bin ich in den letzten Jahren so häufig gereist; keine anderen Landschaften habe ich so oft durchfahren oder überflogen wie jene.

Lassen Sie mich noch einige weitere Ortsnamen nennen, die mir in Vorbereitung dieser Rede begegnet sind: Minsk, Riga, Dnjepropetrowsk, Kiew, Odessa, Chisinau – große Städte also, und kleinere: Dubasari, Pawlograd, Artemovsk. All diese Orte sind Orte, die ich in den vergangenen 12 Monaten bereist habe – und die wahrscheinlich viele von Ihnen aus Nachrichten und Zeitungen kennen.

Denn: In jenen Landschaften herrschen heute Konflikte und Spannungen, die für die Sicherheit und die Zukunft Europas schicksalhaft sind; ja, die sogar die Frage von Krieg und Frieden auf unseren Kontinent zurückgebracht haben. Wir, die deutsche Außenpolitik und unsere Partner, setzen uns -so gut wir es können- für Frieden und Verständigung im Osten unseres Kontinent ein, insbesondere im Konflikt um die Ostukraine.

Aber – und dieses „Aber“ wiegt schwer: Unter diesen Landschaften, unter dem Hier und Heute, liegen Schichten verborgen, die uns Deutsche viel tiefer, viel schicksalhafter mit dieser Region verbinden. Vor 75 Jahren begann mit dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion ein Vernichtungs- und Eroberungskrieg von unbeschreiblicher Grausamkeit. Über 25 Millionen Menschen verloren in der Sowjetunion ihr Leben –der überwiegende Teil von ihnen Zivilisten. Unter ihnen waren mehr als zwei Millionen Juden. Schon in den ersten Tagen nach dem deutschen Angriff begannen die Massaker, die bald in systematische Massenerschießungen übergingen. Das ist das Ungeheuerliche, was unter jenen Landschaften verborgen liegt. So schön die Landschaften sind, die ich beschrieben habe: Sie sind verwundete Landschaften. Sie sind es bis heute. „Bloodlands“ hat der Historiker Timothy Snyder sie genannt.

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Diese Ausstellung nun trägt die Schichten ab, und bringt –Schicht um Schicht– die Details einer Vergangenheit ans Tageslicht, die eben nicht nur eine östliche, sondern auch unsere Vergangenheit ist. Ich nenne die Orte noch einmal:

Minsk – 55.000.

Riga – 45.000.

Dnjepropetrowsk – 16.000.

Kiew – 35.000.

Odessa – 20.000.

Chisinau – 1.500.

Dubasari – 5.000.

Pawlograd – 1.500.

Artemovsk – 1.500.

Das ist die Anzahl der jüdischen Frauen, Männer und Kinder, die in den genannten Städten –oft innerhalb nur weniger Tage- von deutschen Einsatzkommandos, SS-Angehörigen und Polizisten erschossen wurden.

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Direkt am Eingang der Ausstellung, die Sie gleich betreten werden, sehen Sie eine Karte. Sie zeigt das Gebiet von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Auf der Karte sind sehr viele schwarze Punkte eingezeichnet. Jeder Punkt auf der Karte steht für einen Ort, an dem mehr als 500 Menschen erschossen wurden. Die Orte, die ich genannt habe, sind 10 davon. Insgesamt sind 722 Punkte auf dieser Karte eingezeichnet. 722.

Ich sage es Ihnen ehrlich: Für mich war der erste Blick auf diese Karte ein Schock. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Und vermutlich wird das vielen Deutschen so gehen, die die Ausstellung sehen, und ich hoffe, es werden viele sein. Aber – und auch das ist ein schwerwiegendes „Aber“: Für uns Deutsche mag die Karte ein Schock sein – für die Menschen dort in der Region ist sie kein Schock! Viel Schlimmer: Sie ist Ausdruck einer sehr gegenwärtigen Erinnerung. Viele Menschen dort, gerade die älteren, kennen jene schwarzen Punkte und ihre Geschichte. Sie wissen um stille, schreckliche Orte vor den Toren ihres Dorfes; Massengräber, über die grünes Gras gewachsen ist. Die jüdischen Gemeinden und die Angehörigen der Roma-Minderheit gehörten einst zum Alltag in den Städten und Dörfern. Heute sind sie aus den meisten Orten verschwunden, und die Menschen dort leben nur noch mit dunklen Erinnerungen. Sie leben mit dem Wissen, dass ihre Eltern und Großeltern bei den Erschießungen assistieren, Gruben ausheben oder zuschütten, die Kleidung der Opfer sortieren oder für die Mörder kochen mussten. Diese Landschaften sind, wenn Sie so wollen, Topographien des Terrors.

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Meine Damen und Herren,

hätte ich zu Anfang meiner Rede die Namen Auschwitz-Birkenau, Treblinka oder Sobibor aufgelistet – sofort hätten wir an den Holocaust der Vernichtungslager gedacht. Diese Ausstellung wird dazu beitragen, dass die Namen Riga, Kiew, Odessa oder Chisinau nicht mehr nur für heutige Ereignisse und heutige Spannungen stehen. Sondern sie werden uns auch an den Holocaust der Massenerschießungen erinnern, und die vielen Schichten und Geschichten, auch die ethnischen Veränderungen und Verwerfungen, die zwischen damals und der heutigen Oberfläche liegen. Zum ersten Mal sehen wir in Deutschland eine Ausstellung zu diesem Thema – dem vergessenen Holocaust, dem Holocaust durch Massenerschießungen. Ich danke den Ausstellungsmachern dafür. Denn als Außenminister bin ich sicher: Ohne das Bewusstsein um jene Schichten unter den Landschaften, können wir Deutsche –bei allem ehrlichen Bemühen um Verständigung- dieser Region und der Rolle, die wir dort spielen, niemals gerecht werden!

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Wie so oft, wenn wir an den Holocaust denken, ist das Ausmaß der Vernichtung in seinen schieren Größenordnungen kaum begreiflich. Deshalb arbeitet diese Ausstellung mit Beispielen. Sie erzählt Geschichten von Ermordeten, und von Überlebenden. Und sie gibt auch Tätern ein Gesicht, sie berichtet von Handeln und Motiven und von späteren Versuchen sowohl der Aufarbeitung als auch der Vertuschung.

Lassen auch Sie mich deshalb ein Beispiel erzählen, nur ein einziges, und ich habe sogar schon damit begonnen. Das Landschaftsfoto, das ich eingangs beschrieben habe, stammt aus Mizocz. Ende Juni 1941 wird Mizocz durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Zwischen Anfang August und Anfang November 1941 werden 25.000 Juden in der Gegend erschossen. Im Frühjahr 1942 müssen alle Juden in Wolhynien in Ghettos ziehen. Ende August vereinbart die Zivilverwaltung mit dem Kommandeur der Sicherheitspolizei, innerhalb von fünf Wochen alle Juden mit Ausnahme von 500 Fachkräften umzubringen. Am 11. Oktober werden die Ghettos umstellt, am 13. Oktober  abgeriegelt. Die jüdischen Bewohner von Mizozc legen Feuer, um einigen die Flucht zu ermöglichen und zu verhindern, dass ihr Besitz in die Hände der Deutschen fällt. Das Feuer wird gelöscht und die jüdischen Bewohner auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Von dort werden sie am 14. Oktober zu einer Senke außerhalb von Mizocz geführt – eben jener grünen Wiese auf dem Foto. Das Tötungskommando aus Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst ist inzwischen eingetroffen. In Gruppen werden die Juden in die Senke geführt, sie müssen sich ausziehen und werden einzeln durch Genickschuss getötet.

Es gibt fünf Fotografien von diesem 14. Oktober. Sie zeigen Menschen vor und nach den Erschießungen. Die Fotos werden in der Ausstellung gezeigt, Sie erkennen darin die Senke aus der aktuellen Fotografie genau wieder. Es ist schwer zu ertragen, die Bilder anzusehen. Der deutsche Gendarm Gustav Hille hat sie aufgenommen. Die Ausstellung erzählt die abenteuerliche Geschichte seiner Fotos über die Kriegstage bis hin zu ihrer Rolle als Beweisstücke in bundesdeutschen Ermittlungen.

Aber es gibt nicht nur Fotos und Beweisstücke. Es gibt eben auch einige wenige Überlebende – sie haben die Massaker überlebt, den Brand im Ghetto, die Flucht vor den Nazis oder vor Ukrainischen Milizen. Eine Überlebende von Mizocz ist heute hier – es ist eine große Ehre: herzlich Willkommen, Frau Claire Boren! Frau Boren, Sie haben uns Ihre Erinnerungen erzählt: Sie waren ein kleines Mädchen, als die Nazis kamen. Als Erstes haben Ihnen die Nazis Ihren geliebten Hund weggenommen. Ein Deutscher Schäferhund ausgerechnet, mit Namen Rex. Als Sie fünf Jahre alt waren, 1942, gelang Ihrer Mutter mit Ihnen die Flucht. Ihr Vater wurde erschossen. Unvorstellbare anderthalb Jahre lebten Sie mit Ihrer Mutter in Verstecken, in kalten Gruben im Wald, später unter dem Schweinestall eines Bauern. Im Frühjahr 1944 kam die Rote Armee. Ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind. Es gibt nicht mehr viele, die den Holocaust überlebt haben, und es ist unendlich wertvoll, dass Sie uns als Zeitzeugin helfen, die Schichten abzutragen. Vielen Dank, dass sie bereit waren, heute hierher zu kommen.

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Auch für das Auswärtige Amt sehe ich es als Pflicht an, dass wir dabei helfen, die Schichten abzutragen. Das gebietet unsere Geschichte, das gebietet unsere Verantwortung vor den Opfern, aber das beeinflusst nicht zuletzt auch den Gang der heutigen deutschen Außenpolitik in jenen Landschaften. Das Auswärtige Amt unterstützt das Projekt „Erinnerung bewahren“, in dem Orte von Massenerschießungen konserviert werden. Fünf solcher Orte in der Ukraine sind in den letzten Jahren zu Gedenkorten hergerichtet worden. In diesem Frühjahr haben die Projektleiter sieben neue Orte identifiziert, die sie in den kommenden Jahren angehen werden. Auch die in Paris ansässige Organisation „Yahad in Unum“ kümmert sich mit bewundernswertem Einsatz  um die Lokalisierung von Massenerschießungsstätten in Osteuropa. Das Auswärtige Amt  unterstützt sie seit vielen Jahren und ich freue mich, dass Andrej Umansky von „Yahad in Unum“ heute Abend ebenfalls bei uns ist. Ihm und seiner Forschung verdanken wir übrigens die Karte der schwarzen Punkte. Auch Ihnen ein Herzlich willkommen!

Ich danke den Initiativen von „Yahad in Unum“, und Ihnen, Herr Nachama und Herr Neumärker, sowie Ihren Teams. Sie sind Archäologen gegen das Vergessen, Sie tragen die Schichten dieser Landschaften ganz buchstäblich ab.

Aber Sie leisten damit eben noch mehr! Das Beispiel jenes viel zu oft vergessenen Holocaust der Massenerschießungen zeigt, dass wir Deutsche die Geschichten und die Narben jener vielschichtigen Gegenden des Ostens eben sehr viel schlechter kennen, als wir das gern von uns glauben. Und: Ja, dass wir auch in der Aufarbeitung unserer eigenen Rolle dort nicht so weit sind, wie wir das gern von uns glauben. Gerade deshalb finde ich es so wichtig, dass wir uns in Zeiten, in denen neue Spannungen im Osten unseres Kontinents herrschen, umso aktiver mit dieser Region auseinandersetzen. Wir müssen gerade jetzt mehr übereinander wissen – und nicht weniger! Deshalb ist ein neues Institut für Osteuropa-Forschung hier in Berlin so wichtig, und deshalb ist auch ein Lehrstuhl für Ukrainistik an der Universität Greifswald so wichtig, den wir letztes Jahr glücklicherweise mit Hilfe des Auswärtigen Amtes vor dem Aus bewahren konnten.

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Was geschehen ist, können heutige Generationen nicht verändern. Aber wir müssen aus der Geschichte lernen. Und diese Geschichte hat uns Verantwortung auferlegt. Zu dieser Verantwortung müssen wir stehen. Ergreifender, als man das in der Sprache der Außenpolitik ausdrücken kann, ist der Aufruf zur Verantwortung in einem Gedicht ausgedrückt. Das Gedicht heißt Babij Jar. In dieser Woche jähren sich zum 75. Mal jene grausamen zwei Tage, an denen 33.771 jüdische Frauen, Männer und Kinder in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew erschossen wurden.  Der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hat das Gedicht 1961 geschrieben, übersetzt hat es Paul Celan. Wir hören es gleich in voller Länge vorgetragen von Ekkehard Maaß. Ich will zum Abschluss nur wenige Zeilen lesen. Auch sie beginnen mit den Schichten der Landschaft und tragen sie ab:

„Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs,

das Gras.

Streng, so sieht dich der Baum an,

mit Richter-Augen.

Das Schweigen rings schreit.

Ich nehme die Mütze vom Kopf […]

Und bin –bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme

Über tausend und abertausend Begrabene hin […]

Nichts, keine Faser in mir, vergisst das je.“