Quelle: Der Tagesspiegel 21.08.2015
Selbst als der Krieg ausgebrochen war, Deutschland seinerseits die Grenzen verriegelte und die Zahl der Juden, die nach Schweden kommen wollten, auf wenige hundert zusammenschmolz, blieben die Türen weitgehend verschlossen. Erst im Oktober 1943, als sich die Winde des Krieges gedreht hatten und 7000 dänische Juden über die Meerenge des Öresund verschickt wurden, um bei den neutralen Nachbarn anzuklopfen, waren diese bereit zu öffnen. Und dieses Mal waren sie großzügig.
Sie waren es auch im Sommer 1945, als Schweden sich darauf verständigte, über 30 000 Überlebenden der nazistischen Konzentrationslager vorübergehend Zuflucht zu bieten. Unter ihnen befand sich auch ein junger Überlebender aus Auschwitz, der später mein Vater wurde.
Das Ganze erwies sich nicht nur als Neubeginn für ihn, sondern für ganz Schweden. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich ein Land, das Ausländern feindselig gegenüberstand, in ein Land, das sie für seine boomende Industrie rekrutierte. In den 70er Jahren wurde die Politik aktiver Arbeiterzuwanderung durch gastfreundliche Flüchtlingspolitik ersetzt. Zu Anfang der 90er hatte Schweden dann durchschnittlich mehr im Ausland geborene Einwohner als die Vereinigten Staaten und die meisten europäischen Länder.
Heute stammt jeder sechste Einwohner von außerhalb, die meisten sind als Asylsuchende angekommen oder als Teil des schwedischen Programms zur Familienzusammenführung. Allein in diesem Jahr richtet sich die Agentur Migrationsverket auf 100 000 Asylsuchende ein, vor allem auf solche aus Syrien, die mittlerweile ein Prozent der schwedischen Gesamtbevölkerung ausmachen.
In dem Viertel meiner Stadt, in dem ich mit meinem dunklen Teint einst die Ausnahme war, stammt nun die halbe Bevölkerung aus christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten, jeder Dritte kommt aus dem Ausland, und die meisten betrachten Södertälje als kulturelle Hauptstadt einer syrisch-assyrischen Nation in der Diaspora.
Sie machen aus meiner Heimatstadt einen aufsehenerregenden Fall, wenn es um die Aufnahme und Ansiedlung von Flüchtlingen geht.
Wenn die offiziell anerkannte Zahl der Asylbewerber, die sich im Jahr 2014 auf 33 025 belief, anteilsmäßig auf die gesamte EU hochgerechnet worden wäre, hätte die Gesamtzahl der zugezogenen Flüchtlinge die Million überschritten. Dagegen muss man die tatsächliche Zahl von 183 365 halten, zu der Schweden fast ein Fünftel beigetragen hat, während mehrere Mitgliedsstaaten so gut wie keinen Beitrag geleistet haben. Es gibt wenig Grund anzunehmen, dass diese Ausnahme von Dauer sein wird. Jedenfalls nicht solange Antiflüchtlingsparteien sich in Europa ausbreiten. Nicht, wenn eine solche Partei die drittgrößte in Schweden geworden ist. Und nicht, wenn man nicht einmal in der Lage ist, sich auf eine maßvolle Umverteilung von gut 40 000 Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten der EU zu einigen.
Was wäre nötig, um die aus einer Politik gegen Flüchtlinge entstandene Abwärtsspirale ins Gegenteil zu verkehren? Oder genauer, was wäre nötig, um die schwedische Ausnahme zu einem Quell der Anregung zu machen statt zu einem Quell von Unmut und Hohn?
Eine Art Anfang für Europas Führer wäre es vielleicht, sich und ihre Nationen an Evian 1938 zu erinnern. Obwohl nicht jede Nation das seltsam „moralische“ Selbstbild Schwedens teilen wird, sollte sich jede Nation vergegenwärtigen, dass aus dem Europa, das einst unfähig oder unwillens war, menschliche Verantwortung und rechtliche Verpflichtung auf sich zu nehmen und mit den Schutzsuchenden zu teilen, bald eines wurde, das unfähig war, seine eigene moralische und politische Selbsterniedrigung und -zerstörung aufzuhalten.
Während die Europäer geradewegs gen Evian schlafwandeln, sollten sie wenigstens wissen, dass sie es tun.
Und eine vereinte Anstrengung zum Aufwachen unternehmen.
Göran Rosenberg, 1948 im schwedischen Södertälje geboren, hat sich als Journalist und Autor einen Namen gemacht. Auf Deutsch erschien im Rowohlt Verlag zuletzt sein Holocaust-Erinnerungsbuch „Ein kurzer Aufenthalt“. Sein Zwischenruf, den Gregor Dotzauer aus dem Englischen übersetzt hat, gehört zu einer Reihe von Texten, die auf Einladung des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) entstanden sind und sich mit der Situation von Flüchtlingen beschäftigen. Zum Auftakt des ilb am 9. September sollen sie in einer Leseperformance stadtweit vorgetragen werden.