Ein Besuch bei Luc Bondy

aus: Neue Zürcher Zeitung  1.9. 2015  von Barbara Villiger Heilig
Im Nebel der Schweizer Alpen bereitet der Direktor des Pariser Odéon-Theaters die nächste Spielzeit vor. Er plant Shakespeares «Othello» – mit einem Weissen in der Titelrolle
Im Sommer, zwischen der alten und der neuen Spielzeit, machen auch Theaterleute Ferien. Luc Bondy, zurzeit Direktor am Odéon-Theater in Paris, verbringt sie zur Erholung in den Schweizer Bergen, wo er bei meinem Besuch zuschaut, wie der Nebel das Tal emporzieht. Im Hotel empfängt er Freunde und Bekannte. Ruft jemand an, erzählt er vom Buch, das er gerade gelesen hat: John Williams‘ «Stoner». Der Roman habe ihn total hingerissen, ja verstört; es sei schwierig, danach etwas ähnlich Starkes zu finden, wiederholt er eins übers andere Mal; trotzdem will er Lesetipps. Übrigens reagiert er nicht immer, wenn das iPhone klingelt – es verzeichnet 1165 unbeantwortete Anrufe.
Vor dem Ruhestand?
Den Saisonschluss feierte Bondy Mitte Juli mit dem Moskauer Gastspiel seiner Inszenierung von Marivaux‘ «Les fausses confidences». Isabelle Huppert spielte die Hauptrolle. Nach über hundert ausverkauften Pariser Aufführungen gab es also fünf weitere vor, offenbar, begeistertem russischem Publikum. Bondy strahlt, wenn er sich an den Triumph erinnert. Mit der Marivaux-Truppe hat er ausserdem für Arte einen Film gedreht, in dem er das Stück statt auf der Bühne in den Räumlichkeiten des Odéon ansiedelte, Eingangshalle, Treppenaufgang, Foyer-Bistro, Terrasse hoch oben und diverse undefinierbare Nebenzimmer inklusive. Bondy zeigt mir Ausschnitte auf dem Laptop. Bloss 22 Tage habe der Dreh gedauert, jetzt müsse weiter geschnitten werden. Der Spass an seiner Arbeit spricht aus der gesamten Mimik des Regisseurs. «Ich inszeniere gern», sagt er. Natürlich macht er sich Gedanken darüber, was in zwei Jahren kommt, wenn sein Direktorenvertrag am Odéon ausläuft. Dann ist Bondy 69; in Frankreich schickt man auch Künstler in Pension.
Jetzt, wo er am Odéon seine «Schauspielerfamilie» versammeln könne (ein festes Ensemble gibt es nicht), finde er es schade, bald wieder aufhören zu müssen – obwohl er Wechsel grundsätzlich befürwortet und einräumt, Wien habe «zu lang gedauert» (bei den dortigen Festwochen amtierte Bondy nach vier Jahren als Schauspieldirektor noch einmal elf Jahre als Intendant). Bloss «herumhampeln» von einer Stadt zur andern möchte er nicht mehr. Und schon beginnt er ein neues Filmprojekt zu skizzieren, etwas zwischen Autobiografie und Fiktion, das sich seinen Jugendjahren im Internat – er hat sie im Prosaband «Meine Dibbuks» beschrieben – widmen soll. Den Titel weiss er schon: «Luc». Sagt’s und grinst; doch so offensiv-schalkhaft es klingt, quasi mit Ausrufezeichen, versteckt sich dahinter doch jene ewige Suche nach dem eigenen Ich, die ihn einst als Schüler ablenkte. Jedenfalls musste er einige Klassen wiederholen . . .
Tatsächlich wirkt Luc Bondy nie konzentriert auf eine einzige Sache. Multitasking gehört zu seinem quirligen Temperament, permanentes Beobachten, ringsherum, ebenfalls. Oft sind es Nebensächlichkeiten, die er aus dem Augenwinkel mitkriegt und die ihn gefangen nehmen, während sein Blick weiterwandert. Wo auch immer er sich befindet, fasziniert ihn, was zwischen Menschen passiert, oft wortlos: ganze Geschichten. Sie bringt er dann jeweils, den Umständen angepasst, in seinen Inszenierungen unter. Ihre Tiefenschärfe verdankt sich solchen aus der – faktischen, psychologischen – Wirklichkeit abgekupferten Details.
Für «Ivanov», die letzte Odéon-Arbeit, begannen die Proben bei Bondy daheim, weil er nach einer Operation noch nicht fit genug fürs Theater war. Siehe da: Gerade der familiär-intime Rahmen, sagt der Regisseur, habe sich als das erwiesen, was man bei Tschechow brauche; aus der «Not» entstand ein ästhetisches Prinzip. Die einmal gefundenen Konstellationen liessen sich danach leicht auf die Bühne übertragen. Dass sich seine handverlesene Truppe «bei Tee und Mineralwasser» näherkam, verbucht Bondy als Pluspunkt: Fremdheit bringe nicht viel, wenn es darum gehe, gemeinsam einen Imaginationsraum zu füllen. Handkehrum zweifelt er daran, seine Leute wirklich zu «kennen»: Von Micha Lescot zum Beispiel, dem grossgewachsenen jungen Ausnahmeschauspieler – der dank Bondy am Odéon zum Star geworden ist –, sagt er nach der zigsten Zusammenarbeit: «Ich kenne ihn nicht – und er selbst kennt sich auch nicht.» Dunkelzonen sind nötig, sonst fehlt das Geheimnis.
Sartre, Marcuse, Genet
Am schwierigsten, findet Luc Bondy, sei die Besetzung. Da entscheide sich «Dynamik», «Spannung», ja «Elektrizität». Wenn er in der kommenden Spielzeit Shakespeares «Othello» herausbringt, wird Micha Lescot den Jago spielen. Und jetzt kommt’s: Die Hauptrolle übernimmt mit Philippe Torreton ein Weisser. Natürlich weiss Bondy, dass er damit einen Sturm von Kritik heraufbeschwört. «Blackfacing»: Das Stichwort hallt als Unwort seit geraumer Zeit nicht mehr nur durch die deutschsprachige Theaterszene. Doch obwohl es in Frankreich verhältnismässig mehr schwarze Schauspieler gibt als bei uns, wehrt sich Bondy dagegen, die Rolle des Mohren von Venedig nach dem Kriterium der Hautfarbe zu besetzen. Absurd! «Muss denn die Natur mit der Bühne zusammenfallen?» Wo doch Verwandlung das Theater ausmache. Bondy hat sich gut eingelesen, ins Stück, in die Rezeption, auch in die Frage ihrer Politisierung; er zitiert Kommentare aus der Arden-Ausgabe, widerspricht da, pflichtet dort bei. Ihm komme es, sagt er, rassistisch vor, das ganze Stück an der schwarzen Besetzung des Titelhelden aufzuhängen. «Plötzlich gibt es die irrationale Figur des Jago gar nicht mehr, sondern nur noch: Farbe», so fasst er die «Debatte» zusammen, die dem Stück die Show zu stehlen drohe.
Als Luc Bondy nach Abschluss, endlich, der Internatsschule in Paris ankam, brach gerade die 68er Revolution aus. «Faszination und Paralysierung», so beschreibt er seinen damaligen Zustand. Er habe sich Freiheit erhofft, aber als Individuum sei man von der Masse überrollt worden. Bei irgendeinem Anlass damals stellte Sartre, stolz, Herbert Marcuse vor; Genet hingegen, auch er anwesend, rümpfte die Nase ob dem gnadenlos eingeforderten Meinungskonsens: «la colle qui englue tout», nannte er ihn. Leim, der alles verklebt, zumal eigenständiges Denken, ob links oder rechts – den gibt es allerdings auch heute. Und vor ihm retten sich Theaterbühnen nicht automatisch.