„Mit 250 km/h durch Vergangenheit und Gegenwart – der ICE HANNAH ARENDT“

 

 

Einst trugen die  ICE-Züge der Bahn die Namen von Landschaften, Sehenswürdigkeiten und Persönlichkeiten. Daran erinnert eine Reportage über den ICE „Hannah Arendt“

 

cover: jüdischer verlag

 

Hannah Arendt, geboren am 14. Oktober 1906 in Hannover, deutsch-jüdische Denkerin, politische Theoretikerin, Philosophin, Soziologin. Studium bei Heidegger und Jaspers, 1933 Immigration, Lehrtätigkeit in den USA. Am 4. Dezember 1975 stirbt Hannah Arendt in New York.

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ICE 573, Hannah Arendt. Gebaut Ende 1990, in Dienst gestellt im Mai 1991. 400 Meter lang, 759 Sitzplätze, über 13.000 PS, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h. Von Hamburg-Altona über Hannover, Kassel, Frankfurt nach Karlsruhe. Fahrzeit: 4 Stunden und 58 Minuten.

Eingezwängt zwischen Elbchaussee und Reeperbahn, zwischen dem Traum der Ferne und dem kleinen Glück der großen Freiheit. Die Stadtstreicher leeren Bierdosen, Dackel verrichten ihr Geschäft. Dunkle Häuserfassaden zeigen erste Morgenflecken, Frühstückslicht und Fernsehflimmer. Der „Blaue Affe“ lädt zum Morgenpilsener. Unter der Erde „Hera“, Desys Tunnel vom Deutschen Elektronensynchrotron, wo Teilchen schneller flitzen als die überfüllten Vorortzüge.

GeorgHH

Treffpunkt Bahnhof Schnittpunkt Verteilerstation. Eine Taube übt sich im Sturzflug, frühstückt schließlich Eiskristalle. Brezeln duften, Wurst und Frikadelle sehnen sich nach Morgenkäufern. Ein Achteck der Moderne macht Wartezeiten unbequem. Mies gläsern, neonausgeleuchtet mit harten Drahtgestellen, angepriesen als Sitzkomfort.

Altonas Kopfbahnhof‘, Sammelbecken von Zügen und Strecken, Wartesaal, Streckenabschnitt und Abstellgleis, Gleis 9. Treffpunkt der Moderne. Hier schnaubt er vor sich hin, der ICE 573, mit seinen noch gezügelten 13.000 Pferdestärken, der Drehstromantriebstechnik mit Asynchronmotoren, elektronischer Steuerung, Triebdrehgestellen mit umkoppelbaren Massen, doppelten Hohlwellen, Lichtwellen- Leitern, Schallabsorbem. Und dann der Name Hannah Arendt. Philosophen- und Politikwissenschaftler, wie der Karlsruher Peter Sloterdijk oder der Hamburger Karl-Heinz Breier schwanken zwischen „Na ja, was soll‘s“ und lachen:

„war eine Lachnummer, dachte ich. Denn die Hannah Arendt ist ja gerade eine Frau, die sozusagen die Bewegungssüchtigkeit unserer Moderne nicht anprangert, aber die doch zu bedenken gibt, dass die Bewegungssüchtigkeit unserer Moderne die Menschen zunehmend heimatlos macht, zunehmend entwurzelt und darüber sozusagen Verlassenheit produziert wird, wenn ich das mal so sagen darf. Und Verlassenheit ist für sie der Humus, der Boden, auf dem totale Herrschaft gedeihen kann. Das totale Herrschaft war, das sie im Stalinismus anwesend war und im Nationalsozialismus anwesend war, das bedeutet noch lange nicht, dass totale Herrschaft nicht auch in Zukunft wieder in vielleicht noch schlimmerer Form über uns herfallen kann. Die Konstellation Hannah Arendt und der Hochgeschwindigkeitszug ist natürlich eine kontradiktorische. Sie ist nicht selbsteffident, sie war keine Technik-Philosophin, sondern, sie hatte eine große Sorge, dass die Heraufkunft einer durchtechnologisierten Gesellschaft,  den Menschentypus, an der ihr alles gelegen war, nämlich, dass dadurch der Homo-Politikus tendenziell zum Verschwinden gebracht wird. Das war ihre große Sorge, dass eine Form von technologischer Entfremdung in der modernen Gesellschaft Platz greift, die den Bürger, den Homo Politikus, eliminiert, zugunsten eines Technikbenutzers oder Technikbedieners, sagen wir mal besser, der die wichtigsten Eigenschaften des Menschseins, so wie Hannah Arendt es verstanden hat, verliert, nämlich die Fähigkeit in der Polis, das heißt also, auf dem Marktplatz, in der Stadt, im Gespräch der selbständigen und selbstbewussten Bürger eine Rolle zu spielen. “

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„Jetzt sehen wir das nächste Hauptsignal vor der Abzweigstelle Reinweg, das zeigt ein grünes Licht und da drunter grün/gelb für das Vorsignal, das nächste Signal darf nur mit 60 km/h passiert werden, aufgrund der dort folgenden Weichen. Ich hatte gesagt, wir dürfen am nächsten Signal nur mit 60 fahren, dieses Signalbild muss der Lokführer quittieren über die induktive Zugsicherung, genannt Indusi, da hat er diesen Knopf gedrückt, und dann kam als Gegencheck dies Wort von dem David, von dem elektronischen Überwachungssystem Zugbeeinflussung. Jetzt sehen wir da unten zwei grüne Lichter, das heißt, vom nächsten Signal dann die volle Geschwindigkeit, die auf der Strecke zugelassen ist.“

Im Dämmerlicht des Cockpit Schaltzentrale  der Hochtechnologie. Bequemer Polsterledersitz   mit Kopfstütze, zwei Minibildschirme, unverständliche technische Symbole, Grafiken und Lichtersäulen, viele, kleine schwarze Hebel, kreisrunde Anzeigen, Druckknöpfe als technisches Piano. Karl Neuwerk ist hier Solist der Hochgeschwindigkeit. Seit 40 Jahren bei der Bahn, ICE-erfahren seit 1991. Die Ausbildung war vertrackt-„ am schwierigsten“, sagt er, „ so die kleinen Fehler, die immer wieder entdeckt werden mussten“. Sicherheit ist erste Triebfahrzeugfahrer­pflicht. Schließlich ist da die Verantwortung für fast 1000 Menschen. Karl Neuwerk ist ruhig, gelassen, hanseatisch nüchtern, zurückhaltend. Als Rennfahrer fühlt er sich schon manchmal, aber das ist schnell vergessen.

Draußen gleitet die wachgewordene Hamburger Glitzerwelt vorbei, grell im gelben Neon, Ein Satz vorm Dämmerhimmel, unmotiviert und unerklärlich: ‚deine eigene Geschichte‘. Aber er passt. Denn, dahinter nämlich das Rathaus, in dem 1959 Hannah Arendt den Lessing-Preis der Stadt erhielt und dort über Vergangenheitsbewältigung reflektierte.

wikipedia/dschwen

„Mir scheint, dass eine Vergangenheit dann zu einem bleibenden Bestandteil, über den man sprechen kann, geworden ist, wenn man sie als eine Geschichte erzählen kann, so wie sie wirklich gewesen ist und sich ereignet hat. Das kann man erst aus einer gewissen Distanz oder wenn Sie anders wollen, wenn das Geschehene selbst einen gewissen Abschluss erfahren hat. Mir scheint, die Leute haben nicht mal umgedacht, sondern sie haben von einem Tag zum andern gewissermaßen schlagartig aufgehört so zu denken wie man unter den Nazis dachte. Haben danach nie wieder daran zurückgedacht, wie sie gedacht hatten, als die Nazis noch an der Macht waren. Sie haben eben einfach anders gedacht. Als ich zum ersten Mal in Deutschland war, hatte ich die Vorstellung, dass jeder Mensch hier seine Meinung von 1932 gewissermaßen aus der Mottenkiste genommen hat -entschuldigen Sie- und sie nun wieder mehr oder weniger gelüftet, auf der Straße spazieren getragen hat, als ob sich nie etwas ereignet hätte. Es ist nicht nur das im Bewältigen der Begriff ‚Gewalt‘ steckt, sondern, wenn man etwas bewältigt, dann heißt es, dass man sich damit abgefunden hat, das habe ich bewältigt, jetzt kann ich normal weiterleben. Schon aus diesem Grunde lässt sich auch dieser Begriff so nicht deuten und kann auch nicht so verwendet werden. Bei der Aufarbeitung vermeide ich den Begriff Einordnung, weil, einordnen heißt für mich, etwas in einen Ordner tun und ablegen. Aufarbeitung heißt, sich damit ständig beschäftigen, bearbeiten der Geschichte. Und dazu gehört nicht nur die Geschichte des Dritten Reiches, sondern dazu gehört auch die Geschichte nach 1945“

Nach der Nachdenklichkeit, die Realität im ICE-Cockpit, schönes sanftes Gleiten. Und sehr ruhig die Maschine hier. Man kann sich so noch ganz normal unterhalten .Ich frage:  „Fehlt Ihnen das manchmal, dass Sie gerne jemand mit vorne hätten, mit dem Sie quatschen können?“ Die Antwort:  „Ja, wir sind ja sehr viel alleine. Aber offiziell ist es ja nicht erlaubt, dass jemand mitfährt. Nur so wie heute, wenn Sie die Genehmigung haben, die Sondergenehmigung“. „Haben Sie jetzt schon das Gefühl, Rennfahrer zu sein?“  „Nein, man spürt die Geschwindigkeit ja nicht. Sagen Sie selbst, spüren Sie die 200? Und so geht es uns ja auch, wenn wir 250 fahren. Und wenn wir dann runtergebremst werden, so auf 140, dann hat man das Gefühl fast, man könnte so vielleicht nur 40 fahren.“

Wenn Hannah Arendt Geschichten erzählte, kam sie den Menschen näher. Schicksalsanekdoten. Autobiographisches schrieb sie deshalb nicht. Wenn ich meine Geschichten aufschreibe, meint Sie, wer wird dann noch vorbeikommen, und mir beim Erzählen zuhören.

cover jüdischer verlag

„Was ist eine gelungene Existenz? und Aristoteles sagt ja, das Leben ist eine Tätigkeit. Gut, wenn es so ist, dass das Leben eine Tätigkeit ist, dann müssen wir doch überlegen, in welchen Tätigkeiten erschöpft sich unsere Existenz. Und da hat Hannah Arendt in ihrer ‚Vita Aktiva‘ vom tätigen Leben eben beschrieben, welchen Grundtätigkeiten Menschen nachgehen. Und sie hat festgestellt, dass die Moderne gegenwärtig darauf hinausläuft, den Menschen oder die Menschen zu einem Arbeits- und Konsumwesen zu erniedrigen, das heißt, wir erfüllen oder wir sehen als gegenwärtige erfüllte Existenz diejenige an, die sich im Arbeiten und im Konsumieren erschöpft.  Da würde Hannah Arendt sagen, das ist auch ein bisschen mager, und wenn wir sehen, wie frustriert viele Leute überall rumlaufen, wie der Psychoboom boomt, dann hängt das doch damit zusammen, dass die Menschen zunehmend mit ihrer Art und Weise des Lebens unzufrieden sind, und da müssen wir ganz, ganz neu wieder nachdenken.“

Erster Halt Hannover, der Geburtsort von Hannah Arendt.

wikipedia/jens bludau

Die Stadt, eine Melange aus protestantischer Schmucklosigkeit, welfischer Vergangenheit, friedvoller Gartenkultur und technologischer Zukunft.  Gedichte von Hannah Arendt, die sie anders nannte. Ironie spiegelt ihr allerpersönlichstes. Die jüdische Kindheit, aber auch die Unsicherheit aus Jugend und Judentum.

Ich selbst, auch ich tanze.

Ironisch vermessen.

Ich hab nichts vergessen.

Ich kenne die Leere.

Ich kenne die Schwere.

Ich tanze. Ich tanze in ironischem Glanze.

 

„Meine Mutter“, sagt sie im Gespräch, „ sie war selbstverständlich Jüdin, sie würde mich nie getauft haben. Ich nehme an, sie würde mich rechts und links geohrfeigt haben, wäre sie je dahintergekommen, dass ich etwa verleugnet hätte, Jüdin zu sein. Kam nicht auf die Platte, sozusagen, kam gar nicht in Frage, Ich, zum Beispiel, glaube nicht, dass ich mich je als Deutsche, im Sinne der Volkszugehörigkeit, nicht der Staatszugehörigkeit, wenn ich mal den Unterschied nenne, betrachtet habe, und ich besinne mich darauf, dass ich so um das Jahr ‘30 herum darüber bereits erbitterte Diskussionen, z. B., mit Jaspers hatte. Er sagte, natürlich sind sie Deutsche. Ich sagte, das sieht man doch, ich bin keine. Und, das hat aber für mich keine Rolle gespielt. Ich hab das nicht etwa als Minderwertigkeit empfunden.“                                                                                                                                  „Assimilation heißt ein Stück eigener Identität aufgeben und jemand, der seine Identität aufgibt, wird seelenlos. Er wird vielleicht versuchen, die neue Identität anzunehmen, das ist aber so einfach nicht, wenn man in einer anderen Identität aufgewachsen ist, oder wenn man aus einer ständigen Umgebung, in einer ständigen Umgebung gelebt hat, die einem die Identität gegeben hat, und da ist Assimilation, heißt Verlust der eigenen Identität.“ Der Philosoph Breier bringt es auf den Punkt.

Bahnhöfe wie Züge sind Orte des Abschieds und des Wiederfindens, bündeln menschliches  Wissen aber auch Dummheit und Gedankenlosigkeit. Hier also sitzen sie in den kühl gestylten  Abteilen des ICE, die Träger von Intelligenz, Handys und Laptops – tragen Maßgeschneidertes, feinste Stange oder Selbstgestricktes – alles cool, sauber und vor allem glatt. Westen spannen über Wohlstand, Designersocken auf blauem ICE Acryl, die Halbglasbrille vermittelt Wichtigkeit. Ein Versteckspiel hinter Zeitung und Terminkalender. Hannah Arendt – der Name sagt ihnen nichts.

wikipedia/c.willms

Hannah Arendts Meinung über das Denken karikiert die Meinungsträger. Denken hat nichts mit Erkennen zu tun. Wir müssen mit dem fertig werden, was täglich auf uns zukommt und darauf kann Denken vorbereiten. Peter Sloterdijk, Professor in Karlsruhe, betreibt das Geschäft des Denkens. Die Fähigkeit zur Popularität nutzt er voll – mit Hannah Arendt ist er sich einig:  „das Fehlen des Denkens ist eine durchaus normale Erfahrung im Alltagsleben .Denken weder zu schnell noch zu langsam, sondern gar nicht. Das, was man für Denken ausgibt, ist in der Regel einfach eine mehr oder weniger idiotische, das heißt selbstbezügliche Tätigkeit, die nichts anderes wiederspiegelt, als das Repertoire, in dem ein gegebenes Gehirn seine Welt bewältigt. Gehirne spielen Repertoire-Stücke, die man mit Gedanken und Theorien zu verwechseln beliebt. Wirkliches Denken würde anfangen auf einem ganz anderen Niveau Es hätte eher was mit Free-Jazz zutun, jenseits des Repertoires.“

Vor und hinter Kassel die ungezügelte Lust der Pferdestärken, die 250er Marke magisches Spiel, Tunnel wirken als Verstärker, Autobahnen sind Linien in der Landschaft mit Stillstandspunkten. Kassel fliegt vorbei. Der neue Bahnhof, Symbol für Gedankenlosigkeit -den Einbau von Toiletten hat man in der Eile der Moderne und der Hochgeschwindigkeit vergessen. Mietklos zwischen ausgefransten Gleisen symbolisieren normale Gleichgültigkeit. Sloterdijk reflektiert, ist in seinem Denk-Element:

wikipedia/rainer lück

„Dummheit, Gedankenlosigkeit, sehen Sie, zu denken ist etwas originär menschliches. Die  Menschen unterscheiden sich von den Tieren dadurch, dass sie vernunftbegabte Wesen sind. Dies ist eine Lehre der antiken Philosophie. Und wenn wir nun nicht mehr nachdenken und gedankenlos werden, dann begeben wir uns sehr, sehr in die Dimension, ja, ich würde es auch wieder antik deuten, in die Dimension der Leidenschaften. Die Leidenschaften übernehmen dann die Herrschaft in uns, in der Psyche des Einzelnen. Und da würde Hannah Arendt auch, denke ich, eher antik argumentieren und sagen: ja, es scheint doch besser zu sein, wenn die Leidenschaften eher ein bisschen gezähmt werden, wenn wir die Leidenschaften eher ein bisschen zivilisieren. Und das können wir natürlich nur, wenn wir mit unserer Vernunft die Vorgaben überprüfen, den wir mit unseren Leidenschaften nachjagen können. Aber in einer entfesselten Marktgesellschaft, da dominieren nun mal die Leidenschaften, ohne das großartig über die Vernunft nachgefragt wird. Was sozusagen erstrebenswerte Ziele sind, zu denen wir auch die Leidenschaft in Dienst nehmen können.“

wikipedia/mylius

Die gedankliche Zeitreise durch Erinnerung und Zukunft ist nach knapp 4 Stunden in Frankfurt, einer Stadt, die unumgänglich ist. An Frankfurt kommt niemand vorbei, hier fließt alles durch und zusammen, Geld, Waren, Verkehr und Geist. Bauzäune, Lärm, Kräne, Messe und die Skyline der Banken. Dahinter – fast schamhaft versteckt – der erste Versuch deutscher Demokratie, die Paulskirche.

wikipedia/mylius

An der Stirnseite der Aufschrei, das Mahnmal an deutsche Unmenschlichkeit, an die Verbrechen, die Morde, die Konzentrationslager. Hier wird alljährlich der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergeben: 1958 an Karl Jaspers, die Laudatio hält Hannah Arendt.

„Jaspers ‚Ja‘ zur Öffentlichkeit ist einzigartig, weil es ein Philosoph ausspricht und weil es  sachlich der Grundüberzeugung seines gesamten Philosophierens entspricht. Philosophie hat mit Politik gemeinsam, dass sie alle angeht. Dies ist der Grund, dass sie in die Öffentlichkeit gehört, wo nur die Person und die Bewährung zählen. Der Philosoph im Gegensatz zum Wissenschaftler gleicht dem Staatsmann darin, dass er für seine Meinung mit seiner Person haftet. Allerdings der Staatsmann noch in der gewissermaßen glücklichen Lage ist, nur dem eigenen Volke verantwortlich zu sein, während Jaspers zumindest seit 1933 immer so schreibt und spricht, als müsse er gegebenenfalls sich vor der ganzen Menschheit verantworten.“

wikipedia/blueknow

„Der Raum ist schneeweiß gestrichen“, schreibt der Architekt der wiederaufgebauten Paulskirche.  „Der Bau ist von einer solch nüchternen Strenge, dass darin kein unwahres Wort möglich sein sollte.“ Draußen aber vor der Tür die ewige Mahnung an die Unmenschlichkeit, die von Deutschland ausgegangen ist, an Verfolgung, an Vernichtung. Frankfurt – heute Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland – war einmal ein Ort der Weisen und der Schriftgelehrten, ein geistiges Zentrum des westeuropäischen Judentums; der geeignete Ort, um mit Ignatz Bubis über jene Frage nachzudenken, die auch Hannah Arendt immer wieder umtrieb und vor Rätsel stellte und die vor dem Hintergrund des Jahres 1995, Kriegsende, Befreiung, auch der Konzentrationslager, aktuell ist – die Frage nämlich: Wie kann menschliche Freiheit angesichts der Grunderfahrungen dieses Jahrhunderts überhaupt noch gedacht und begründet werden?

wikipedia/túrelio

„Sie hatte sicherlich Recht, dass man nach 1945 geglaubt hat, die Welt kann gar nicht mehr so  sein wie sie war. Man wird über vieles nicht mehr sprechen können und nicht mehr diskutieren können. Es hat sich gezeigt, und zwar sehr schnell gezeigt, dass im Grunde genommen die Menschheit viel mehr ertragen kann und ertragen muss als man sich vorstellen kann und im Moment des Leids und im Moment der Trauer das vorstellbar ist.“

Das letzte Teilstück der Strecke Hamburg-Karlsruhe. Geballte Vorurteile beim Anblick von Mannheim:

wikipedia/klaus nahr
wikipedia/gerd w. zinke
wikipedia/immanuel giel

Industrie, grau in grau, der süßlich bittere Duft von BASF – vergessen ist das größte Barockschloss, das hier protzt, vergessen das erste Fahrrad, das sich mühsam als Draisine seine Wege suchte und die Freiheit der Moderne, die benzinbetriebene Kutsche des Herrn Benz. Im Speisewagen werden Deckchen glattgezupft, Bierhähne blankgeputzt, die Mikrowelle aufgeheizt für Eintopf, Nudeln oder Lachsragout. Hochtechnologie macht Köche überflüssig, auch eine Art Kritik der zynischen Vernunft, die Peter Sloterdijk populär machte. Etwas Pfeffer in erschlaffte Kostümkritik, so seine Forderung, der Intellektuelle als Korsar. Seit Jahren aber liegt die Philosophie im Sterben, kann es aber nicht, weil ihre Aufgabe unerfüllt ist. Jetzt auf einmal fällt ihr ein, was sie zeitlebens zu sagen vergaß.

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„Es ist etwas Wahres dran, dass wir nach 1945 auf diesen Moment gewartet hätten, dass so etwas wie eine belebende Auferstehung der deutschen Sprache beim Reden über die Wahrheit hätte stattfinden sollen. Das war eine Phantasie, die es gegeben hat – ich selber hab mich auch damit beschäftigt mit den Phantasien von deutschen Dichtem, deutschen Schriftstellern nach 1945. Das Warten auf das Wiedereinsetzen der deutschen Sprache auf der Höhe ihrer Wahrheitsmöglichkeit. Das ist in der gewissen Weise ausgeblieben und es gab einmal so ein merkwürdiges Hinterherschimpfen hinter den Ereignissen und kein wirklicher Neuanfang. Insofern müssen auch die Geister der Vergangenheit im Augenblick beschworen werden, nicht noch illusionär verstärken durch eine besondere Art von herbeireden des Schlimmsten. Das wäre die Fähigkeit, die die Deutschen 1945 so im Übermaß entwickelt haben, nämlich die Funktion des Versprechens zu ersetzen durch das Abschwören. Das Absagen, das Abschwören, das für unmöglich erklären, das Abwinken, das sich auf nichts einlassen, damit diese utopische Funktion, die in jeder Sprache am Werk ist, nämlich, dass Menschen, indem sie miteinander reden, schon das Versprechen des besseren Lebens auch weitertragen. Diese Funktion wird in Deutschland durch diese bestimmt Form von Pessimismus Verschwörungen auch sabotiert.“

„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Karlsruhe-Hauptbahnhof.“ Die quäkende Sterilität der Durchsage unterbricht abrupt tiefere Gedankengänge.  „Unser Zug endet dort. Wir verabschieden uns‘ von Ihnen und würden uns freuen, Sie bald wieder als unsere Fahrgäste begrüßen zu dürfen.“

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Glockenspiel und Kopfsteinpflaster, Straßenbahn und barockes Schloss Gepränge, das ist die Endstation als Wiederholung des Anfangszaubers. – Karlsruhe – Geburtsort des ersten badischen Lokomotivführers, des Vaters von Carl Friedrich Benz. Durchgangsstation, offen also der Bahnhof für frische Winde. Kreativität, Kunst und vor allem das Recht sind hier zu Hause. Alles Garanten der Freiheit und Humanität. Gedanken von Hannah Arendt als Wegweiser auch hier.

„Dies Reich, in dem Jaspers beheimatet ist, und zu dem er uns die Wege öffnet liegt nicht im  Jenseits und ist keine Utopie. Es ist nicht von gestern und es ist nicht von morgen. Es ist von dieser Welt. Vernunft hat es geschaffen und Freiheit regiert in ihm. Es ist nicht zu fixieren und nicht zu organisieren. Und, obwohl es weltlich ist, ist es unsichtbar. Es ist das Reich der Humanitas, zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung. “

 

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Nachdenklichkeit als Endpunkt. Schlicht, quadratisch neben güldenem Barock, das Bundesverfassungsgericht. Eine Architektur zum Abgewöhnen – aber die Gründerväter – so die Präsidentin – wollten klare Linien – das Recht als durchlässiges Gut kennzeichnen. Jutta Limbach sitzt entspannt in ihrem wunderschönen Büro, mit Traumblick auf den Schlossgarten,löst sich von der „Le Monde“ Lektüre. Hannah Arendt schätzt sie sehr. Als Jutta Limbach Berlin verließ, erhielt sie sogar die passende Lektüre. Einig ist sie sich mit Hannah Arendt, dassFreiheit erst durch eine Republik mit Verfassung geschützt wird.

Das blaue Sofa Club Bertelsmann

„Republik wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um ein Staatswesen handelt, bei denen die Bevölkerung unmittelbar oder mittelbar den politisch Verantwortlichen auf Zeit wählt. Und damit ist gemeint, dass es also keine vorverfassungsmäßige rechtlich ungebundene Führerschaft, sondern immer nur eine dem Volke gegenüber verantwortliche Führerschaft geben kann, und der Hauptpunkt allerdings ist auch der, dass sie sagt, eine Verfassung, und dabei dachte sie gewiss auch an den unsere Verfassung, das Grundgesetz eröffnenden Katalog der Grundrechte, das Bekenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Artikel 1, oder die Verbürgung der Entfaltungsfreiheit der Person, Artikel 2. Das waren Antworten auf die Perversion des Rechts im Nationalsozialismus und der Schutz des Individuums ist in der Tat elementar für die Frage, wie vermeide ich einen Rückfall in solche menschenunwürdigen Zeiten, wie wir sie in der Zeit zwischen 1933 und ‘45 erlebt haben. Recht allein kann vergangenes Unrecht und die Folgen eines totalitären Regimes nicht aufarbeiten. Da ist auch die Politik gefordert und da ist auch die Gesellschaft. Und wie Hannah Arendt das ganz richtig gesehen hat, da ist jeder einzelne Mensch in diesem Staate gefordert. Von ihr stammt ja doch im Grunde genommen diese Diagnose aus einer Reise, die sie im Jahre 1950 gemacht hat, dass die Deutschen offenbar unfähig seien, zu trauern, über das, was in den Jahren 1933 – ‘45 verschuldet ist. Also, auch der einzelne Mensch muss diese Verantwortung spüren, muss erfahrungsfähig sein, was historische Schuld angeht „

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